[Wikide-l] Wikipedia ist politisch nicht aktiv. Scheiss drauf

Gerhard Jahnke Gerhard.Jahnke at gmx.de
Di Jun 21 20:00:17 UTC 2005


Hallo,

am Mon, 20 Jun 2005 13:47:24 +0200 schrieb Agon S. Buchholz:

[in Antwort auf Thomas Hochstein]

> mittlerweile einfach zu vielfältig sind. Daher meine ich, dass nicht
> jeder, der online publiziert, automatisch zum Herausgeber wird, aber
> ebenso zum Verleger oder Herausgeber werden *kann*.

Damit hast Du sicher recht. Insofern ist die Impressumspflicht in
Deutschland zu restriktiv. Andererseits sollten staatliche Regeln auch
möglichst einfach sein, ein guter Ausnahmenkatalog wäre sehr schwer zu
erstellen.

> In einem Wiki mit tausenden von Mitarbeitern macht es aber keinen Sinn
> mehr, bestimmten oder gar allen Personen dieselben Prüfpflichten
> aufzuerlegen wie einem hauptberuflichen Lektor. Auch und gerade die
> Verantwortung des Autoren für den eigenen Text ist schwer zu bestimmten,
> wenn Texte kollektiv verfasst werden;

Sehr gut zusammengefasst. Damit ist aber auch klar, dass es etwas völlig
verschiedenes ist, in einem Wiki anonyme Edits zuzulassen oder in einem
Impressum einer Website dort vorgeschriebene Angaben zu unterlassen.

>>> Also forderst Du, "Vorschriften" aus Prinzip einzuhalten und nicht
>>> zu hinterfragen, oder wenn man sie doch hinterfragt, sich dennoch
>>> an sie zu halten
>
>> So ist es. Ein solches Verhalten ist elementar für einen Rechtsstaat.
>
> Elementar für einen Rechtsstaat sind mündige Bürger, die Sinn und Unsinn
> normierter Regelungen vernünftig beurteilen können;

Völlig richtig. Das heißt aber nicht, dass diese das Recht haben, jede
subjektiv als unsinnig gesehen Regel zu ignorieren. Sie haben das Recht
(vielleicht sogar die moralische Pflicht), die Änderung dieser Regel bzw.
ihre Abschaffung zu betreiben. Idealerweise sollte es ihnen gelingen, wenn
hinreichend viele andere die Sinnhaftigkeit der Regel ebenfalls bezweifeln.

> kein Land dieser
> Erde hat vollständige Regelungen für alle Bereiche des Lebens, der
> Bürger muss also in der Lage sein, auf der Basis eines grundlegenden
> Rechts- und Unrechtsverständnisses die für ihn gültigen und annehmbaren
> Regelungen anzuerkennen.

Nein, das ist so nicht richtig. Der Bürger sollte sich dort, wo es keine
staatlichen Regeln gibt, trotzdem moralisch verhalten. Dort wo es Regeln
gibt, sind sie nicht der Willkür des Einzelnen anheimgestellt, sondern
sollten zumindest grundsätzlich anerkannt werden.

Bürgerlicher Ungehorsam ist in manchen Fällen notwendig, wenn keine andere
Abhilfe möglich ist. Das sollte aber immer die Ausnahme sein. Du machst es
zur Regel, das führt letztlich zur Beliebigkeit von Vorschriften und damit
zur Herrschaft der Stärkeren.

> Erstens ist es für einen Staatsbürger bereits
> im bundesdeutschen Rechtsraum bereits praktisch unmöglich, sich absolut
> rechtskonform zu verhalten (es gibt zu viele Gesetze und Regelungen, die
> man einfach nicht kennt), zweitens sind einfach nicht alle gesetzlichen
> Regelungen sinnvoll und erst recht nicht eindeutig.

Meine Forderung, sich an Vorschriften zu halten, heißt ja nicht, dass man
zum Hellseher werden soll. Man sollte Vorschriften, die man kennt, aber
nicht wissentlich falsch auslegen oder ignorieren.

Das gilt zum Beispiel auch für Anwälte, die das Instrument der Abmahnung
zur Bereicherung missbrauchen. Nach Deiner Argumentation ist ihre Handlung
legitim. Meiner Meinung nach widerspricht dieses Vorgehen dem Geist des
Gesetzes und ist damit nicht in Ordnung.

> Ad 1: Ich kenne niemanden, der sich in dem von Dir geäußerten
> Verständnis gesetzestreu verhalten würde;

Wirklich nicht? Ich kenne zwar nicht viele Leute, die das tun, aber doch
mehrere. Und einige, die dieses Verhalten zumindest für richtig hielten,
und sich hinterher meistens schämen, wenn sie sich anders verhalten. Zu
letzteren zähle ich mich (meist) selbst.

> bekanntlich nicht vor Strafe, aber selbst wer zu unbedingter
> Gesetzestreue bereit ist, begeht ständig unwissentlich Gesetzesverstöße,
> ohne etwas dagegen tun zu können.

Das war nicht der Punkt. Du verteidigst nicht die unwissentliche
Übertretung von Rechtsnormen, Du rufst zum Ignorieren unliebiger Normen
auf. Das hat eine ganz andere Qualität. Anarchie ist als Konzept sehr
schön, führt aber mit den Menschen, wie sie sind, eher zur Diktatur als zu
größerer Freiheit.

> Ad 2: Nicht jeder Bereich des Lebens ist gesetzlich geregelt, daher
> werden Gesetze interpretiert und an veränderte Verhältnisse adaptiert.
> Ein Beispiel hierfür ist die Abmahnpraxis gegen private
> Websitebetreiber:

Ganz und gar nicht. Das ist eher ein Beispiel dafür, wie sinnvolle
Vorschriften durch unsinnige Auslegung pervertiert werden können, wenn sie
gerade nicht adaptiert werden. Dass gerade Du die Abmahnpraxis verteidigst,
verstehe ich allerdings gar nicht.

> einen ganz erheblichen Interpretationsspielraum für Gesetze gibt, schon
> allein aufgrund dieser Uneindeutigkeit ist eine unbedingte vorauseilende
> Gesetzestreue weder möglich noch sinnvoll.

Die verlangt ja auch niemand. Aber wenn in einer Vorschrift steht, dass ein
Impressum eine Anschrift enthalten muss, dass ist das doch hinreichend
eindeutig, dass man sich daran halten kann.

>> In einem Rechtsstaat ist es dennoch für sein Funktionieren für alle
>> Bürger zwingend, von Ausnahmefällen abgesehen rechtliche Normen auch
>> dann zu beachten, wenn man sie ablehnt. Wenn jeder nur die Gesetze
>> befolgt, die er gerade - für sich - für sinnvoll hält, bräuchten wir
>> keine.
>
> Wie gesagt, ich halte die "Ausnahmefälle" eher für den Normalzustand,
> und ich sehe einen enormen Unterschied zwischen dem Versuch des mündigen
> Bürgers, Gesetze nach Richtigkeit und Gerechtigkeit zu beurteilen

Das eine hat mit dem anderen aber nur am Rande zu tun. Der Rechtsstaat
beruht gerade darauf, dass man sich an Gesetze auch dann hält, wenn sie für
einen selbst gerade ungünstig sind. Dass ein Bürger Gesetze auch beurteilen
sollte, um sie nötigenfalls zu ändern, ist eine andere Sache.

> Warum sollte man eigentlich eine Zeitung nicht anonym herausgeben
> können?

Wenn die entsprechenden Gesetze geändert würden, spräche nichts dagegen.
Außer dass die Qualität darunter möglicherweise leiden könnte.

> Es gibt eine unendliche Fülle aus der Geschichte der
> Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die anonym
> veröffentlicht wurden.

In Diktaturen oft eine Notwendigkeit, obwohl es dort besonders schwierig
ist. Im demokratischen Rechtsstaat sehe ich die Notwendigkeit nicht so,
dies zu ermöglichen. Vor allem sehe ich nicht die Notwendigkeit, die
bestehenden Gesetze zu übertreten, wenn es einem zu schwierig ist, sie zu
ändern.

>>> Entweder man akzeptiert die grundsätzliche Berechtigung und
>>> Notwendigkeit von Anonymität und damit auch die von
>>> Grenzüberschreitungen
>
>> Nein, das eine folgt nicht, wie Du behaupten möchtest, aus dem
>> anderen.
>
> Warum nicht?

Weil Anonymität auch zugelassen sein kann. Grenzüberschreitungen hingegen
sind dies per definitionem nicht, und sie sind besonders wirksam, wenn sie
nicht anonym geschehen.

> Staatliche Normen und rechtliche Regelungen sind immer an
> einen Zeitkontext gebunden; die Möglichkeit des anonymen Publizierens
> dient nicht primär dem Kaschieren peinlichen Geschreibsels, sondern um
> etwas zu sagen, was man sonst nicht sagen könnte.

Im demokratischen Rechststaat gibt es wenig, was man nicht ohne staatliche
Sanktion sagen könnte. Das meiste /davon/ *sollte* auch staatlich
sanktioniert werden - meiner Meinung nach.

> Freiheitliche
> Publizisten konnten -- in anderen Rechtsordnungen -- jahrhundertelang
> für das eingesperrt werden, was sie veröffentlichten; hätte es nicht die
> Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen, also von Gesetzesbrüchen der
> damalig geltenden Rechtsordnung gegeben, wäre Amerika noch eine
> britische Kolonie und Frankreich hätte einen König.

Das ist erstens vermutlich falsch und sagt zweitens nichts darüber aus,
warum es in unserer Rechtsordnung legitim sein sollte, sich über völlig
anders entstandene Normen hinwegzusetzen.

> Warum sollte
> es heute nicht dieselbe Notwendigkeit zu Veränderungen geben, etw weil
> wir in einer perfekten Gesellschaft leben?

Nein, perfekt ist unsere Gesellschaft nicht. Aber sie bietet innerhalb der
Rechtsordnung Möglichkeiten, diese zu ändern, die Notwendigkeit, dies in
Widerspruch zu ihr zu tun, stellt sich also nicht annähernd in dem Maß wie
früher. Es gibt Grenzfälle, wo auch unsere Gesellschaft des gezielten
Normbruchs bedarf, aber diese sind die Ausnahme und müssen es auch bleiben.
Alles andere führt in die Diktatur.

Gruß, Gerhard aka Perrak