[Wikide-l] Wikipedia ist politisch nicht aktiv. Scheiss drauf

Agon S. Buchholz asb at kefk.net
Mo Jun 20 11:47:24 UTC 2005


Thomas Hochstein wrote:

[ Analogien zu Autor, Leserbriefschreiber, Herausgeber und Verleger im Web ]

> Wer im Netz publiziert, ist nicht Leserbriefschreiber, sondern 
> Herausgeber einer Zeitung o.ä. Druckwerks - nur online. Daher gelten 
> dieselben Maßgaben.

Guter Einwand; ich habe damals in meiner Waldorf-Argumentation (da ging
es um die Haftung für Hyperlinks in einem nicht moderierten Forum auf
angeblich rechtswidrige Inhalte) auch sehr lange nach passenden 
Analogien zu solchen Akteursrollen wie "Forumsschreiber", 
"Forumsbetreiber", "Websitebetreiber", "Websiteautor", "Wikipedianer", 
"Blogger" usw. gesucht und keine passenden gefunden.

Fast alles, was man online machen kann, sind Hybridformen aus 
verschiedenen Rollen des klassischen und ausdiffernzierten Verlags- und 
Publikationswesens des 19./ 20. Jahrhunderts; bessere Analogien findet 
man m.E. im (noch weniger geregelten und ausdifferenzierten) 
emergierenden Verlagswesen des 16./ 17. Jahrhunderts; Analogien zu den 
modernen Rollen im Publikationswesen konnte ich immer nur für bestimmte 
*Funktionen* finden, weil die Publikationsformen im Internet 
mittlerweile einfach zu vielfältig sind. Daher meine ich, dass nicht 
jeder, der online publiziert, automatisch zum Herausgeber wird, aber 
ebenso zum Verleger oder Herausgeber werden *kann*.

M.E. spiegelt sich genau diese Feststellung einer Neuverteilung der
Rollen wider in den Systematisierungsversuchen der Gesetzgebung für
"neue Medien", beispielsweise in den Erscheinungsformen für Medien- und
Teledienste im MDStV und TDG (§ 2 MDStV, §2 TDG), wo u.a. zwischen
Abruf- und Verteildiensten, Individualkommunikation, Zugangsvermittlung
usw. ausdifferenziert und eben nicht einfach das alte Verlagsrecht
anwegandt wird. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass diese
Mediengesetzgebung gerade mal die Kommunikationsformen der 1980er und
90er Jahre erfasst (nämliche Angebote wie Teleshopping, Datendienste,
Fernmsehtext, On-demand-Dienste usw.) und noch überhaupt nicht auf viel
weiter deregulierten Kommunikationsverhältnisse ab den 1990er Jahren
adaptiert wurde.

Beispiel: In einem Wiki, das anonyme Edits zulässt, kann jeder 
Mitarbeiter wohl unbestritten gleichzeitig Fuktionen von Autor, Lektor 
und Herausgeber wahrnehmen: Er kann eigene Texte veröffentlichen, fremde 
Texte bearbeiten und die Veröffentlichung fremder Texte dulden oder auch 
verhindern. Es gibt aber kein unmittelbares (und personalisierbares) 
Äquivalent zum Verleger, da niemand die Funktion eines Gatekeepers 
innehalt, folglich ist es auch so schwierig festzustellen, wer jetzt 
wofür haftbar gemacht werden kann.

In den politischen Prozessen gegen den Berliner Wagenbach-Verlag Mitte 
der 1970er Jahre wurde beispielsweise eine Verantwortung des Verlegers 
Klaus Wagenbach für die von ihm veröffentlichten Publikationen 
konstruiert (Formulierungen "Benno Ohnesorg ermordet" und "Georg von 
Rauch ermordet" im Roten Kalender 73; das hatten auch andere gesagt wie 
Fried oder Böll, die dafür nicht bestraft wurden; Wagenbach hatte es 
zwar nicht geschrieben, aber verlegt und wanderte dafür für einige 
Monate ins Gefängnis). Wie die damalige Anklageschrift das begründete, 
weiß ich nicht, heute würde man aber wohl von einer Zueigenmachung durch 
Nichtverhinderung sprechen.

In einem moderierten Forum könnte man also vielleicht eine Analogie 
bilden wie Forumsbetreiber-Verleger, Forumsmoderator-Herausgeber, 
Forumsschreiber-Autor, da der Herausgeber ebenso wie der Forumsmoderator 
die Möglichkeit hat, eine Veröffentlichung (einen Forumsbeitrag nicht 
freizuschalten); in einem offenen Wiki gibt es aber keine Äquivalente, 
weil der Wiki-Betreiber überhaupt nicht über die Veröffentlichung eines 
Beitrags entscheidet (also kein Verleger) und die Äquivalente zu 
Lektorat und Herausgeberschaft eben alle anderen Wiki-Mitarbeiter wären.

In einem Wiki mit tausenden von Mitarbeitern macht es aber keinen Sinn 
mehr, bestimmten oder gar allen Personen dieselben Prüfpflichten 
aufzuerlegen wie einem hauptberuflichen Lektor. Auch und gerade die 
Verantwortung des Autoren für den eigenen Text ist schwer zu bestimmten, 
wenn Texte kollektiv verfasst werden; bereits wenige eingefügte oder 
gelöschte Worte können die Aussage eines Wikipedia-Artikels können die 
Aussage vollkommen verändern, und man kann einem Autoren wohl auch kaum 
Prüfpflichten für veränderte Artikelfassungen auferlegen (so wie es die 
Staatsanwaltschaft erfolglos im Radikal-Prozess gegen Petra Pau versucht 
hatte). Umgekehrt dürfte es wohl auch nicht haltbar sein, jedem neuen 
Autoren Prüfpflichten und Zueigenmachung für den gesamten Artikelrest 
oder gar alle verlinkten Artikel oder externe Ressourcen aufzubürden, 
obwohl er durchaus in Funktion eines Lektor-Herausgebers auftritt.

>> Also forderst Du, "Vorschriften" aus Prinzip einzuhalten und nicht
>> zu hinterfragen, oder wenn man sie doch hinterfragt, sich dennoch
>> an sie zu halten

> So ist es. Ein solches Verhalten ist elementar für einen Rechtsstaat.

Elementar für einen Rechtsstaat sind mündige Bürger, die Sinn und Unsinn 
normierter Regelungen vernünftig beurteilen können; kein Land dieser 
Erde hat vollständige Regelungen für alle Bereiche des Lebens, der 
Bürger muss also in der Lage sein, auf der Basis eines grundlegenden 
Rechts- und Unrechtsverständnisses die für ihn gültigen und annehmbaren 
Regelungen anzuerkennen. Erstens ist es für einen Staatsbürger bereits 
im bundesdeutschen Rechtsraum bereits praktisch unmöglich, sich absolut 
rechtskonform zu verhalten (es gibt zu viele Gesetze und Regelungen, die 
man einfach nicht kennt), zweitens sind einfach nicht alle gesetzlichen 
Regelungen sinnvoll und erst recht nicht eindeutig.

Ad 1: Ich kenne niemanden, der sich in dem von Dir geäußerten 
Verständnis gesetzestreu verhalten würde; jeder setzt sich im 
Straßenverkehr über gesetzliche Regelungen hinweg und überquert eine 
Straße bei Rot, überschreitet mit dem PKW ein Tempolimit, entsorgt 
Plastikmüll in der falschen Mülltonne, verstößt gegen die 
Hundehalterverordnung und läßt seinen Hund mal trotz Leinenzwang im Wald 
frei laufen oder verstößt wissentlich oder unwissentlich gegen 
irgendwelche Steuergesetze; natürlich verstößt auch jeder, der unter 
GNU/Linux eine CSS-geschützte DVD abspielt, gegen den Wortlaut des 
novellierten UrhG, nicht jedoch gegen des Geist des Urheberechts. In 
Berlin gibt es keinen generellen Leinenzwang, im angrenzenden 
Brandenburg schon; wer mal den Hund seines Nachbarn ausführt und dabei 
versehentlich die Landesgrenze überschreitet, begeht schon eine 
Ordnungswidrigkeit, wenn er den Hund nicht direkt an der (natürlich 
nicht ausgewiesenen) Bundeslandesgrenze anleint. Unwissenheit schützt 
bekanntlich nicht vor Strafe, aber selbst wer zu unbedingter 
Gesetzestreue bereit ist, begeht ständig unwissentlich Gesetzesverstöße, 
ohne etwas dagegen tun zu können.

Ad 2: Nicht jeder Bereich des Lebens ist gesetzlich geregelt, daher 
werden Gesetze interpretiert und an veränderte Verhältnisse adaptiert. 
Ein Beispiel hierfür ist die Abmahnpraxis gegen private 
Websitebetreiber: Das Instrument der Abmahnung war nie dafür gedacht, 
hunderttausende von Privatleuten mit Klagen über etiche tausend Euro zu 
überziehen; das BGB oder meinetwegen auch UWG wurde an einen neuen 
Sachverhalt adaptiert. Formaljuristisch mögen diese Abmahnungen 
rechtmäßig sein, im Geiste des Gesetzes sind sie es jedoch m.E. nicht; 
die Existenz des Richterrechts belegt doch wohl hinreichend, dass es 
einen ganz erheblichen Interpretationsspielraum für Gesetze gibt, schon 
allein aufgrund dieser Uneindeutigkeit ist eine unbedingte vorauseilende 
Gesetzestreue weder möglich noch sinnvoll.

> In einem Rechtsstaat ist es dennoch für sein Funktionieren für alle 
> Bürger zwingend, von Ausnahmefällen abgesehen rechtliche Normen auch 
> dann zu beachten, wenn man sie ablehnt. Wenn jeder nur die Gesetze 
> befolgt, die er gerade - für sich - für sinnvoll hält, bräuchten wir 
> keine.

Wie gesagt, ich halte die "Ausnahmefälle" eher für den Normalzustand, 
und ich sehe einen enormen Unterschied zwischen dem Versuch des mündigen 
Bürgers, Gesetze nach Richtigkeit und Gerechtigkeit zu beurteilen und 
der Forderung, alle Gesetze abzuschaffen; ersteres halte ich für ein 
Desiderat, letzteres für eine Utopie.

>> Tatsache ist nun einmal, dass beispielsweise weder die französische
>> noch die US-amerikanische Verfassung in ihren heutigen Formen 
>> existieren würden, wenn es nicht die Möglichkeit gegeben hätte, 
>> anonym zu publizieren.

> Die gibt es doch. Siehe Wikipedia. Du brauchst nur jemanden, der Dir 
> eine Plattform bereitstellt. Auch in einer Zeitung kannst Du anonym 
> publizieren - Du kannst nur nicht eine solche anonym herausgeben. :)

Warum sollte man eigentlich eine Zeitung nicht anonym herausgeben 
können? Es gibt eine unendliche Fülle aus der Geschichte der 
Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die anonym 
veröffentlicht wurden. Die Konvention, in Büchern überhaupt einen 
Verleger anzugeben, hat sich erst rund zwei Jahrhunderte entwickelt.

>> Entweder man akzeptiert die grundsätzliche Berechtigung und 
>> Notwendigkeit von Anonymität und damit auch die von 
>> Grenzüberschreitungen

> Nein, das eine folgt nicht, wie Du behaupten möchtest, aus dem 
> anderen.

Warum nicht? Staatliche Normen und rechtliche Regelungen sind immer an 
einen Zeitkontext gebunden; die Möglichkeit des anonymen Publizierens 
dient nicht primär dem Kaschieren peinlichen Geschreibsels, sondern um 
etwas zu sagen, was man sonst nicht sagen könnte. Freiheitliche 
Publizisten konnten -- in anderen Rechtsordnungen -- jahrhundertelang 
für das eingesperrt werden, was sie veröffentlichten; hätte es nicht die 
Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen, also von Gesetzesbrüchen der 
damalig geltenden Rechtsordnung gegeben, wäre Amerika noch eine 
britische Kolonie und Frankreich hätte einen König. Vielleicht muß man 
es immer wieder sagen: Auch die "Encyclopédie" war eine durchweg 
illegale und konspirative Unternehmung, ein permanentes Unterlaufen und 
Unterschriten von damals geltendem Recht. Bis heute weiß man bei 
etlichen Artikeln nicht, wer sie eigentlich verfasst hat. Warum sollte 
es heute nicht dieselbe Notwendigkeit zu Veränderungen geben, etw weil 
wir in einer perfekten Gesellschaft leben?

MfG -asb