Hiho,
da ich auch schon angefragt wurde, ob wir im nächsten Jahr in München
dabei sein wollen, kann ich meine Überlegungen dazu genausogut hier
mit euch gemeinsam teilen. Ich knabbere auf dem Problem nämlich auch
schon seit einigen Tagen herum.
Wie gewohnt von mir ein ausufernd langer Text, aber das Thema ist mir
wirklich zu wichtig, als das ich es nur über ein paar dahingeworfene
Sätze abhandeln möchte.
> On 30.05.2009, at 17:50, Tim Moritz Hector wrote:
> zunächst muss man sagen: Kirche und
wissenschaftliche Aufklärung ist
> natürlich kein Widerspruch. Auch viele Teile der Kirche haben den
> Darwinismus anerkannt und beharren, höchstens in orthodoxen bis sehr
> konservativen Kreisen, z.B. nicht an der wortwörtlichen
> Schöpfungsgeschichte.
Das ist aber nicht das einzige Argument, das einem ins Gesicht gesagt
wird, wenn man „ich finde die Kirche unmodern und doof“ nicht auf der
Stirn geschrieben trägt - oder präziser: Ich habe weit öfter von
Freunden und Bekannten Dinge wie „die Kirche deckt die Pädophilen in
ihren eigenen Reihen“ oder „die Kirche hat die Hexen verbrennen
lassen“ gehört, als sowas wie „die erkennen Darwin nicht an“. Solche
Argumente muß man hier im Detail wirklich nicht diskutieren (das
führte tatsächlich viel zu weit ab vom eigentlichen Thema), aber ich
denke das man den Subtext sehr ernst nehmen muß. (Der Subtext wäre
sowas wie „die Kirche ist eine altmodische, rückwärtsgewandte,
unaufgeklärte, sich selbst gegenüber enorm unkritische Institution,
die in der Vergangenheit und Gegenwart kapitale Fehler gemacht hat und
macht, zu denen sie nicht stehen will“ – stimmt so pauschal natürlich
nicht, wird aber gern auf so einem pauschalen Level verhandelt).
Oder anders und ganz konkret gefragt: Welches Signal geben wir (wobei
– s.u. – auch dieses „wir“ genau zu definieren wäre), wenn wir auf
einem Kirchentag auftreten?
Ich stelle mal vier mögliche Anworten in den Raum:
* Antwort 1: Wir sind immer gern bereit Bestrebungen des Web 2.0 zu
fördern
Ist das unsere (damit meine ich WMDE und WP) Kernaufgabe: Menschen
über die Segnungen des interaktiven und kollaborativen Lebens und
Arbeitens aufzuklären? Ich meine nein: Unsere Aufgabe – vielleicht
sogar: Mission – ist ganz klar definiert die Förderung freien Wissens
(für WMDE) und der Aufbau einer freien Enzyklopädie (WP).
* Antwort 2: Wir machen uns Ziele und Themen des Kirchentags zu eigen
und unterstützen deren Ziele und Forderungen durch unsere rein
physische Präsenz
Hier sehe ich wirklich eine Gefahr, daß ein Auftritt von uns
vollkommen falsch verstanden wird. Ich glaube (passt ja zum Thema
Kirche ;)), daß unsere hohe Akzeptanz in der Öffentlichkeit (auch)
sehr viel damit zu tun hat, daß wir Neutralität ganz groß auf unsere
Fahne geschrieben haben. Und daher sollten wir zu solchen wohl im
weitesten Sinne als ideologisch motiviert zu verstehenden
Veranstaltungen auch eine ganz klare Linie und Haltung entwickeln.
Ich könnte mir gut vorstellen, daß die Junge Union, die Jusos oder die
Grüne Jugend auch sehr viel Interesse daran haben könnten von unseren
Erfahrungen innerhalb des Web 2.0 zu lernen und uns zu einer
Veranstaltung einzuladen: Immerhin sind wir (hier gemeint: WP) das
bekannteste Web 2.0-Projekt, beliebt noch dazu und ganz sicher setzt
so mancher Veranstalter darauf, daß wir noch ein paar Leute mehr auf
die Veranstaltung ziehen, die sonst nicht gekommen wären. Würden wir
auch auf Parteiveranstaltungen gehen?
* Antwort 3: Wir nutzen jede Chance, um über freies Wissen aufzuklären
und ggf. sogar neue Autoren zu finden
Das ist ganz sicher das, was _wir_ wollen und was uns in einem mal
größeren, mal kleineren Rahmen auch jedes Mal gelingt. Ganz platt
gesagt: Jeder Mensch, den wir auf einer Veranstaltung darüber
aufgeklärt haben, wie WP funktioniert und warum freies Wissen eine
großartige Idee ist, der ist ein potentieller Multiplikator und hat
wieder was dazugelernt.
Aber um mal zwei Sätze aus Tims Blogeintrag
(
http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikimedia_Deutschland_e.V./Blog
) aufzugreifen:
Zitat: „Der Austausch zwischen Kirche und Web 2.0 wirkt insgesamt aber
noch recht holprig, da es sich nach wie vor um zwei sehr verschiedene
Kulturkreise handelt. Das zeigt sich daran, dass das offizielle
Kirchentagsprogramm dieses Themenfeld noch nicht aufgegriffen hat.“
So wie ich die Veranstaltung in Bremen verstanden habe auf der Tim wie
man heraushört mit großem Erfolg (Gratulation übrigens!!) gesprochen
hat, handelte es sich dabei eher um eine Nebenveranstaltung, die wohl
mehr oder weniger von einzelnen Interessierten in
Eigenverantwortlichkeit aufgezogen wurde und gar nicht Teil des
offiziellen Programms war. Nun ist gegen solche – ich sag mal:
Nebenschauplätze natürlich nichts einzuwenden und wenn das Erfolge
zeitigt, ist das eine tolle Sache.
Jetzt werfe ich aber mal einen Blick in das offizielle Programm des
Kirchtags (
http://www.kirchentag.de/programm/thematisch.html) und da
finde ich immerhin Bildung als eines der Kernthemen – deckt sich ja
auch irgendwie mit unseren Zielen und vielleicht sogar
Kernkompetenzen. Nur wie versteht man von Seiten der
Kirchentagsoffiziellen das Thema?
Zitat: „ … Ziele von Bildung: Erwerb von Schlüsselkompetenzen,
soziale Integration, kulturelle Bildung, Berufsfähigkeit,
Herzensbildung. Mit welchem Arrangement aus formellen und informellen
Bildungs- und Erziehungsorten lassen sich diese Ziele am besten
erreichen? Schließlich soll es um religiöse Bildung gehen: Wie kann
die Weitergabe von Wissen über das Christentum neu gestaltet werden,
wenn die klassischen Instanzen – Familie, Religions- und
Konfirmandenunterricht – die Rolle des Vermittlers immer weniger
ausfüllen? In diesem Kontext geht es auch um die Frage, welche Rolle
die Kirchen als Bildungsträger im Bereich von Kindergärten und Schulen
spielen und wie unsere Bildungslandschaft dadurch verändert wird.“
Wir als Wikipedianer berufen uns ganz explizit auf Diderot und damit
einen der Vertreter der Aufklärung, die (Zitat aus unserem Artikel)
„ … durch das Bestreben geprägt war, das Denken mit den Mitteln der
Vernunft von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen,
Vorurteilen und Ideologien zu befreien und Akzeptanz für neu erlangtes
Wissen zu schaffen.“ Und konkret bezogen auf die Encyclopédie von
Diderot (nochmal aus unserem Artikel über die Aufklärung): „Mit der
Enzyklopädie sollte das gesamte Wissen und Können der Menschheit gegen
den Widerstand weltlicher und geistlicher Machthaber öffentlich
verfügbar gemacht werden.“
Den Kirchenoffiziellen geht es also – und das sei ihnen unbenommen! –
darum, den Glauben und Glaubensinhalte effektiv(er) unter die
Menschheit zu bringen. Uns als Aufklärer und der Wissenschaft
verpflichtete Enzyklopädisten geht es darum, das ganze und
vollständige Wissen der Menschheit zu verbreiten und zugänglich zu
machen – frei und unabhängig von jeder Ideologie und Fokussierung auf
nur einen Aspekt. Wie geht das beides zusammen, frage ich mich – und
auch euch.
Würde eine größere offizielle Präsenz von WMDE und/oder WP auf einem
Kirchtag nicht möglicherweise so wahrgenommen werden, daß wir uns zum
Büttel einer (man verzeihe mir mal die plakative Ausdrucksweise)
rückschrittlichen, ausschließlich dem Glauben und nicht dem Wissen
verpflichteten, verkrusteten und enorm altmodischen Institution
machten? (Stimmt so krass natürlich nicht, aber in dem Thema wird eben
meist nicht besonders fein ziseliert diskutiert).
* Antwort 4: Wir wollen – auf Teufel komm' raus (kleiner Kalauer ;) –
bekannter werden
Da steht für mich zunächst immer die Frage im Raum, von welchem „wir“
wir hier eigentlich reden: Meinen wir die WP oder meinen wir den
Verein Wikimedia Deutschland?
Als WP haben wir das „bekannter werden“ nicht nötig – das ist nicht
aus Arroganz so gesagt, sondern weil es stimmt. Unsere Bekanntheit in
der Bevölkerung dürfte sich irgendwo zwischen 90 und 97% bewegen und
das ist gut genug, um nicht mehr mit dem Anspruch losziehen zu müssen
ein „es gibt uns“-Signal auszusenden.
Für WMDE ist die Bilanz nicht ganz so gut. Oder anders: WP kennt
jeder, den Verein kaum einer – und dann weiß auch kaum jemand was der
Verein konkret macht. Im schlimmsten Fall gehen Leute davon aus, daß
der Verein (WMDE) die WP betreibt und die Autoren bezahlt.
Aber will man mit WMDE auf einem Kichentag nach Spendern suchen? Oder
soll Mathias dort nach Verantwortlichen der vatikanischen Archive
fragen und die bitten, daß sie uns z. B. die Protokolle der
Templerprozesse zur Digitalisierung überlassen? (_Das_ allerdings wäre
mal ein gelungener Coup! :)) Nein sorry, ich will das nicht ins
Lächerliche ziehen, aber ich sehe hier kaum einen Anknüpfungspunkt
zwischen den doch sehr klar formulierten Ansprüchen des – zumindest
vergangenen – Kirchentags auf effizientere und modernere Verbreitung
des christlichen Glaubens und dem sehr viel globaler formulierten Ziel
des Vereins für die Verbreitung und Akzeptanz freien Wissens zu sorgen.
Im schlimmsten Falle passiert das, was ich weiter oben angedeutet
habe: In der öffentlichen Wahrnehmung sieht es so aus, als mache sich
der Verein die Ziele des Kirchtags zu eigen oder biedere sich bei
einer nicht unumstrittenen Zielgruppe an. Und wir können dort und in
unserer eigenen Außen- und Innenkommunikation so differenziert sein
wie wir wollen: Niemand kann garantieren, daß am Ende nicht
Schlagzeilen wie „Wikimedia und Wikipedianer jetzt bei den Jesus-
Freaks“ stehen :)
Also nochmal sorry für die Textmassen und ausdrücklichen Dank für
jeden kritischen, hilfreichen oder zielführenden Kommentar dazu!
Beste Grüße
Henriette