[Wikide-l] Re: Gradiuertenkolleg "Geistiges Eigentum und Gemeinfreiheit"

Agon S. Buchholz asb at kefk.net
Sa Jun 25 13:43:57 UTC 2005


Jakob Voss wrote:

> Ich denke eher, dass "Geistiges Eigentum" nun mal einfach die
> üblichere Bezeichnung ist. Im Grunde ist mit "immateriellen
> Monopolrechten" genau das gleiche gemeint mit dem Unterschied, dass
> eine andere Wertung impliziert wird. Ich würde die Wissenschaftler
> nicht wegen ihrer Wortwahl vorverurteilen.

Genau diese Lesart sehe ich als das Problem; nur kurz dazu (das Thema
ist hier doch etwas OT): Ein Elmar Wadle kann meinetwegen "Geistiges
Eigentum" in seinen "Bausteinen zur Rechtsgeschichte" untersuchen und
sich dort beispielsweise mit den Württembergischen Nachdruckprivilegien
im 19. Jahrhundert beschäftigen; spätestens, nachdem man im Vorwort
gelesen hat, dass die VG WORT die 400 Seiten des Bandes II finanziert
hat, weiß man auch, aus welcher Richtung der Mann kommt.

Was aber heute unter angebliches "geistiges Eigentum" gefasst wird, hat
aber nichts mehr mit Rechtsgeschichte zu tun, ist weder besonders
geistig noch überhaupt Eigentum, nämlich beispielsweise Farben
(Markenrecht), Gene von Saatgut oder Mäsusen (Patentrecht) oder die
ganzen Obszönitäten des novellierten Urheberrechts, die nichts mehr mit
persönlichen geistigen Schöpfungen zu tun haben. Der Kampfbegriff des
"geistigen Eigentums" adelt und kumuliert Dinge unter einem ehrenwerten
Etikett, die weder so etikettiert gehörten noch überhaupt zusammenpassen.

>> Siehe dazu mein Testballon [[Auf den Schultern von Giganten]]
>> (übrigens ein eher unrühmliches Kapitel in der Historiografie der
>> Wikiepdia).

> Wieso? So schlecht finde ich den Artikel gar nicht (aber bisher auch
> nicht gerade gut).

Der Artikel referiert ein (m.E. sehr wichtiges) Gleichnis; das 
einschlägige (populär-) wissenschaftliche Buch dazu ist Mertons im 
Artikel von Anfang an referenzierter gleichnamiger Band ("OTSOG"). Ich 
habe den Artikel am 6. April 2004 angelegt, er ist danach von einem 
knappen Dutzend Leuten bearbeitet worden und mittlerweile über ein Jahr 
inhaltlich weitgehend unverändert geblieben. Mit allen eingestreuten 
Fehlern und Gerüchten.

Der Artikel war ein Testballon für das 100-Augen-Prinzip der Wikipedia 
(vermutlich schweben noch etliche weitere herum); der Artikel referiert 
nämlich weder Mertons Buch (und damit den längst überholten 
Forschungsstand von 1965) vollständig, noch ist er sachlich korrekt: Ich 
habe nämlich einfach Mertons "Fund" unterschlagen. Ich wollte 
beobachten, ob jemand den Sachverhalt kritisch prüft (was nicht der Fall 
war), eigene Quellenarbeit leistet (was ebenfalls nicht der Fall war) 
oder wenigstens den Artikel mit den angegebenen Literaturquellen 
abgleicht (auch das war nicht der Fall). Theoretisch hatte ich vor, den 
"Schleier" nach einigen Monaten zu lüften, den Artikel zu 
vervollständigen, den (m.E. sehr wichtigen) Artikel zu einem 
"exzellenten" auszubauen und die Ergebnisse des Versuchs in der 
"Wikipedistik" zu veröffentlichen; da kam dann aber die 
Waldorf-Abmahnung dazwischen, die meine Arbeit in der Wikipedia 
unterband, daher verbleib der Artikel viel länger als beabsichtigt in 
seinem desolaten Zustand und wurde fast schon zu einer "Langzeitstudie".

Der Trick in Mertons 240-seitigem Bändchen besteht ja darin, dass er -- 
durch nicht übermäßig tiefschürfende Quellenarbeit -- feststellt, dass 
wohl aus Nachlässigkeit und Bequemlichkeit über Jahrhunderte (!) eine 
falsche Quellenzuschreibung tradiert wurde, da anscheinend *niemand* aus 
der wissenschaftlichen Gemeinschaft sich die Mühe gemacht hatte, die 
Quellen zu prüfen und immer nur Nonsens-Verweise reproduziert wurden. 
Der Hinweis von Burton auf Didacus Stella "in Luc. 10, tom. ii" bezieht 
sich -- nach Merton -- eben nicht auf den heidnisch-römischen Dichter 
Lucan (verlinkt ist auch bei uns noch immer [[Marcus Annaeus Lucanus]]), 
sondern -- so zumindest Merton -- auf den heiligen Lukas. In Lucans "De 
Bello Civili" oder "Pharsalia" existiert das Gleichnis nicht, wie man 
selbst mit einer reinen Internet-Recherche feststellen kann (der 
Volltext existiert online).

Einige Benutzer haben bei uns schließlich den bereits von Merton 
ausfindig gemachten "tatsächlichen" Urheber (Bernhard von Chartres) 
halbherzig ergänzt, den Lucan-Fehler aber weiter beibehalten. Auch die 
ganze ideengeschichteliche Ableitung von Merton wurde nie ergänzt, 
geschweige denn problematisiert (wohlgemerkt, Mertons Buch erschien 
1965). Ohne jegliche Quellenangabe ergänzte dann jemand im April 2005 
(also nach rund einem Jahr!), dass der Ursprung des Gleichnisses 
"mutmaßlich der antike Mythos von [[Kedalion]] [sei], der auf den 
Schultern des blinden Riesen [[Orion (Mythologie)]] saß und ihn führte"; 
eine Quellenanagbe dazu wäre notwendig, weil zum einen Merton diese 
Quelle vor Bernhard nicht erwähnt und zum anderen, weil alle möglichen 
antiken Autoren über die Orionsage geschrieben haben, man also selbst 
mit allgemeinen altphilologischen Vorkenntnissen nicht klar zuordnen 
kann, wer wann was geschrieben haben soll.

Richtig interessant wird es dann, wenn man konsequent über Mertons 
1960er-Jahre-Erkennisse hinausgeht und auch nur den "kleinen Pauli" zu 
Rate zieht; dort findet man dann nämlich tatsächlich Quellennachweise, 
nach denen Kedalion, der Lehrer oder Gehilfe des Hephaistos den 
geblendeten Riesen Orion "auf dessen Schultern sitzend, gen 
Sonnenaufgang führt", wo dieser von Helios sein Augenlicht zurück erhält 
(kryptische Quellenangabe: "Hes. frg. 182 Rz. Eratosth. katast. 32 
Apollod. 1,26"). Im "Pauly" findet sich dann noch der verwirrende 
Hinweis, diese Szene sei "vereinzelt in der Kunst dargestellt" ("Lukian. 
de domo 28. Titel eines sophokl. Satyrspiels"; ob dieser "Lukian" mit 
dem heiligen Lukas identisch ist, darf bezweifelt werden; der "Pauly" 
bietet uns gleich zwei "Lukianos" an, einen Sophisten und einen 
Märtyrer; Handlexika helfen hier aber sicherlich nicht mehr weiter).

Exemplarisch zeigt der Wikipedia-Artikel [[Auf den Schultern von 
Giganten]] also, dass nach über einem Jahr (a) das 100-Augen-Prinzip 
(zumindest in diesem Einzelfall) nicht funktioniert, (b) Quellen ebenso 
wenig geprüft werden wie in all den anderen Abschreiber- 
Nachschlagewerken, die lediglich auf sich selbst referenzieren, nicht 
jedoch auf die tatsächlichen Quellen, (c) Literaturangaben nicht auf 
korrekte Paraphrasierung geprüft werden und der Artikelstand dadurch auf 
einen Forschungsstand weit vor 1965 zurückfällt, obwohl Mertons Buch 
sogar in deutscher Übersetzung vorliegt und als preiswertes Taschenbuch 
lieferbar ist (man muss also weder fremdsprachige Texte lesen, noch sich 
in die Bibliothek bemühen) sowie (d) selbst eine kritische 
Quellensichtung wirklich gut verfügbarer ergänzender Materialien wie dem 
"kleinen Pauly" ausbleibt (Fehlende Einarbeitung der antiken Quellen), 
und (e) wissenschaftliche Forschungsliteratur überhaupt nicht 
eingearbeitet wird. Abgesehen davon wurden natürlich auch die 
verschiedenen Interpretationen und Implikationen des Gleichnisses nicht 
eingearbeitet

Dieses Herumgeschlampe mit Quellenangaben und erfundenen oder falschen 
Zuschreibungen ist halt an einem Artikel wie [[Auf den Schultern von 
Giganten]] besonders prekär, da sich der ganze Artikel ja eben um die 
Bedeutung der Vorleistungen anderer dreht. Die Fehler im Artikel wären 
auch weniger prekär, wenn sie nicht 1965 bereits von Robert K. Merton 
ausführlichst erörtert worden wären (von Newton über Burton bis zu Lukan 
kommt man nämlich auch mit einer reinen Internet-Recherche, ohne Merton 
gelesen zu haben, das sollte aber für die Wikipedia nicht ausreichen).

Natürlich ist das ein Einzelfall und nicht repräsentativ; natürlich 
belegt der Einzelfall auch nur, dass man natürlich auch 
Wikipedia-Artikel äußerst kritisch lesen muss, wie jedes andere 
Nachschlagewerk auch. Und natürlich zeigt sich auch hier wieder nur die 
derzeitige Richtungslosigkeit der Wikipedia zwischen populärem 
(Trivial-) und wissenschaftlichem (Fach-) Wissen: Die Blocklaus hätte 
das Problem überhaupt nicht, dort findet man entsprechende Artikel gar 
nicht erst; hätte Wikipedia einen ebensolchen rein 
nicht-wissenschaftlichen Anspruch (à la "Konversationslexikon"), gäbe es 
auch kein Problem; stellte man aber höhere Anforderungen an die 
Wikipedia als an konventionelle allgemeine Nachschlagewerke à la 
Blocklaus, würde die mangelhafte Aufarbeitung des Artikels ein echtes 
Problem aufzeigen. Und eigentlich sollten wir uns doch einig sein, dass 
wir mit der Wikipedia signifikant über das Niveau von Blocklaus und 
Britannica hinausgehen wollen und werden...

MfG -asb