[Wikide-l] Wikipedia ist politisch nicht aktiv. Scheiss drauf

Agon S. Buchholz asb at kefk.net
Mo Jun 20 00:09:27 UTC 2005


Gerhard Jahnke wrote:

>> Bist Du sicher, dass du mit dieser Einstellung in einem *Wiki*
>> richtig bist, das mit gutem Grund anonyme Edits zulässt?

> Ja, weil die hier eben zugelassen *sind*. Und weil gerade die
> besonders überwacht werden und Edits falls notwendig eben in der
> Versionsgeschichte versenkt werden.

Wer zitiert hier eigentlich sinnentstellend? Wenn man sich selbst die
Freiheit nimmt, beliebige Bröcken aus dem Zusammenhang gerissen zu
"beantworten", sollte man anderen eigentlich zumindest dieselben
Freiheiten einräumen.

Du hattest in Antwort auf einen Einwand von Paul argumentiert, dass man 
auf das Verfassen eines Leserbriefes verzichten solle, wenn man 
befürchte, dass einem daraus Nachteile entstehen könnten; angeblich 
veröffentlichen Zeitungen die Adresse des Leserbriefschreibers, so 
behauptest Du zumindest in Deiner Antwort auf Pauls Mail, und diese 
angebliche Veröffentlichung der Adressdaten setzt Du in Analogie zu den 
Pflichtangaben im Impressum einer Website: Wer Nachteile befürchtet, 
soll es doch lieber sein lassen.

Tatsächlich habe ich jedoch noch in keiner Zeitung oder Zeitschrift
einen vollständigen Adressdatensatz unter einem Adressdatensazu gesehen,
jedenfalls auch annähernd nichts, was mit den notwendigerweise
ladungsfähigen Angaben des Website-Impressums vergleichbar wäre;
ausserdem unterschlägst Du die Tatsache, dass man in jeder seriösen
Publikation um Anonymisierung des eigenen Namens ("Verfasser ist der
Redaktion bekannt") bitten kann, Adressdaten werden dann natürlich erst
recht nicht veröffentlicht; wenn der Leserbrief dann nicht abgedruckt
wird, ist das jedenfalls eine redaktionelle Entscheidung und keine
Selbstzensur des Autors.

Die Analogie zwischen Leserbrief und Website-Impressum ist also völlig
schief und dient allenfalls rhetorisch dazu, den umstrittenen
Sachverhalt der bundesdeutschen Impressumspflicht zu trivialisieren. Das
ist argumentativ nicht lauter, da die Impressumspflicht eben nicht
trivial (sie lädt eben, im Gegensatz zu den Angaben in Verbindung mit
einem Leserbrief, zu Mißbrauch ein; erzwungenermaßen korrekte da 
rechtlich sanktionierbare Angaben sind wohl auch kaum mit irgendwelchen 
dubiosen Adressdatenbanken vergleichbar) und auch nicht notwendig ist 
(der Rest des die Meinungsfreiheit achtenden Teils der Welt kommt ja 
auch ohne solche Angaben aus, und ohne extrem restrikive Maßnahmen 
werden derartige Pflichtangaben ganz sicher keinen Schutz vor wirklich
kriminellen Energien bieten; wer zu Selbstzensur "ermuntert" wird, ist
eben nur der Durchschnittsbürger).

Interessanter wird dann aber Dein Vorschlag, wie man sich gegen die
Möglichkeit des Mißbrauchs von personenbezogenen Daten legitim "wehrt"
(das ist Deine Wortwahl): Indem man schweigt, also "indem man keine
Website betreibt und sich auch sonst zurückhält". Das dient der
Begründung, dass man sich gesetzestreu verhalten könne und vor allem
müsse, denn: "In einem Rechststaat sich an Vorschriften erstmal zu
halten, auch wenn man sie nicht befürwortet, halte ich für einen Teil
des 'fairen Umgangs' miteinander". Also forderst Du, "Vorschriften" aus
Prinzip einzuhalten und nicht zu hinterfragen, oder wenn man sie doch
hinterfragt, sich dennoch an sie zu halten und vermutlich dann auch am
besten noch über seine Einwände zu schweigen.

Du vergisst dabei, oder möchtest vergessen machen, dass "ungesetzlich" 
eben nicht gleichbedeutend mit "unrecht" ist, und dass ein solches 
Verhalten in einer Demokratie weder konstruktiv noch erwünscht ist; was 
Du beschreibst, ist vielmehr eine absolutierte Form der Schweigespirale. 
Einen dermaßen dogmatischen Umgang mit Vorschriften fordert vielleicht 
die katholische Kirche, aber sicherlich kein bundesdeutscher Richter. 
Und Beispiele für unrechte Gesetze hat es wohl in unserer Geschichte zu 
genüge gegeben. Einen irgendwie zwingenden Zusammenhang zwischen "fairem 
Umgang" und so genannter Gesetzestreue sehe ich in diesem Kontext 
endgültig nicht mehr. Ein "fairer Umgang" ist eine moralische Forderung, 
"gesetzestreue" dagegen eine normative; gerade ethisches Handeln kann ja 
bekanntlich mit Gesetzestreue kollidieren.

Tatsache ist nun einmal, dass beispielsweise weder die französische
noch die US-amerikanische Verfassung in ihren heutigen Formen existieren
würden, wenn es nicht die Möglichkeit gegeben hätte, anonym zu
publizieren. Schau beispielsweise mal nach, wer Alexander Hamilton, John
Jay und James Madison waren und was es mit dem Pseudonym "Publius" auf
sich hatte. Das anonyme Publizieren diente regelmäßig dem Unterlaufen 
politischer oder ideologischer Zensur, und damit eben auch dem 
Unterlaufen von Gesetzen. Wohlgemerkt, von damals gültigen Gesetzen,
die uns heute inakzeptabel erscheinen würden. Hätten sich Hamilton, Jay
und Madison damals an Deine Forderung gehalten, unsinnige Gesetze zu
achten, hätte es The Federalist Papers nie gegeben.

Einstellungen eines derartig duckmäuserischen und vor allem
unreflektierten Obrigkeitsgehorsams sind m.E. in der Wikipedia fehl am
Platze; nicht unrichtig ist sicherlich, dass anonyme Edits, wie Du
schreibst, "überwacht [...] und falls notwendig eben in der
Versionsgeschichte versenkt werden"; in dem von Dir immer wieder
vorgeführten Geist bedeutet das aber plötzlich, dass anonyme Edits nicht
uberwacht werden, weil sie potenziell destruktiv, sondern grundsätzlich
aufgrund ihrer Anonymität suspekt sind; und dass es "notwendig" ist, sie
in der Versionsgeschichte zu versenken, obwohl sie vielleicht richtig
und wichtig sind, aber irgendjemandem nicht genehm sein könnten oder
womöglich sogar gegen "Vorschriften" verstoßen (wenn ich mich dann noch
erinnere, wie man solche "Vorschriften" auch noch selbst erlassen oder
einfach beugen kann, möchte ich gar nicht darüber nachdenken, was für
eine "Ethik" hinter einer solchen Denk- oder vielmehr Gehorchenwollweise
steht).

Außerdem verstehe ich überhaupt nicht, wie Du angeblich *für* anonyme
Edits in der Wikipedia eintreten und gleichzeitig für straff
gesetzestreue Auslegung unsinniger Impressumspflichten in
Website-Impressa eintreten kannst. Entweder man akzeptiert die
grundsätzliche Berechtigung und Notwendigkeit von Anonymität und damit
auch die von Grenzüberschreitungen (wie dem Ignorieren von unsinnigen
Plichtangaben in Impressa), oder man möchte eben grundsätzlich gläserne
Akteure (und ist dann falsch in der Wikipedia).

-asb