[Wikide-l] ToDo: Algoritmus zur URV-identifizierung

Michael Wagner micwag at t-online.de
Fr Feb 27 10:11:49 UTC 2004


Kurt Jansson <jansson at gmx.net> writes:

> Das habe ich jetzt noch nicht verstanden. Wo genau liegt das
> Problem bei der Verwendung aktueller Enzyklopädien? 
> Paraphrasieren ist ja zum Glück noch nicht verboten, und
> Fakten als solche fallen nicht unter das Urheberrecht.

Glanz und Elend jeder philologischen Arbeit - und die Verfertigung von
Enzyklopädien ist philologische Arbeit par excellence - besteht darin,
bei der schöpferische Aufbereitung und Aneignung (Rezeption) des Wissens
der früheren Generationen und seiner Einordnung in das Weltbild der
Gegenwart die Balance zu halten zwischen stumpfsinnigem Abschreiben
dessen, was schon andere Abschreiber von anderen Abschreibern
abgeschrieben (kompiliert) haben und dem Rückgriff auf die Quellen, von
denen die ersten Abschreiber abgeschrieben haben. Philologie und
Enyklopädistik ist also im wesentlichen Quellenforschung. In einer
Enzyklopädie, die den Namen verdient, will ich nicht (nur) lesen, dass
Sokrates 399 c. Chr. hingerichtet wurde. Das finde ich auch in der
Encarta. Ich will erfahren, woher wir das wissen (von Platon, Xenophon
usw. = Quellengaben) und ich will erfahren, warum das heute für uns noch
wichtig ist (= Einordnung in das Weltbild der Gegenwart).

Wikipedia bietet, finde ich, die einmalige Chance, nicht nur den
wiedergekäuten Brei kommerzieller Enzyklopädien for free anzubieten,
sondern etwas Besseres zu liefern. Beispiel Encarta: Da steht unter
Mithraskult, dass dieser aus Sizilien nach Rom kam. Das ist Quatsch. Die
eigentliche Quelle ist Plutarch. Bei Plutarch ist aber nicht von
Sizilien die Rede, sondern von Kilikien. Hier hat offenbar einer
irgendwann falsch abgeschrieben und Encarta hat es unbesehen
übernommen. Da Encarta die Quelle nicht nennt, merkt es keiner und nach
100 Jahren fleißigem Encarta-Gebrauch (in den Schulen!) ist der Quatsch
Allgemeinwissen.

Was nun die von einer modernen Enzyklopädie zu leistende Einordnung
alten Wissens in das Weltbild der Gegenwart angeht - da ist die
Benutzung vorhandener Enzyklopädien besonders gefährlich. Beim
Abschreiben aus Meyer 1888 bemerkt jeder, dass manches heute so nicht
mehr gesehen werden kann. Beim "Abschreiben" aus modernen Enyklopädien
ist das Problem subtiler. Denn wir sind ja alle bereits durch diese Art
von Allgemeinbildung (oder Allgemeinirrtum) geprägt, die in diesen
Werken fortgeschleppt wird. Und da ist das Wiki-Konzept eben auch wieder
bahnbrechend und in gewisser Weise revolutionär. Da jeder ändern kann
und eine Diskussion des Inhalts stattfindet, wenn sich Widerspruch
erhebt, kann erstmals eine wirkliche aktuelle Aneignung dessen
stattfinden, was bisher vielfach nur als toter Bildungsballast unbesehen
tradiert wurde.

Deswegen meine ich: Vorhandene Enzyklopädien sind ein guter
Ausgangspunkt für eigene Studien und Überlegungen. Wo es um bloße
Faktenhuberei geht, kann auch viel übernommen werden. Gerade in den
wertenden (einordnenden) Passagen sollte aber besser ganz Eigenes
geschrieben werden. Auch wenn es nicht so professionell (wie durch
jahrhundertelanges Abschreiben abgeleckt) klingt. Es kann ja verbessert
werden.