[Wikide-l] Das ist das größte Ärgernis an Wikipedia

Gerhard Jahnke Gerhard.Jahnke at gmx.de
Di Okt 4 19:32:22 UTC 2005


Hallo,

am Tue, 4 Oct 2005 06:05:15 -0700 schrieb Nicole S:

(BTW, ist Deine Zeitzone richtig?)

>>Das ist dann aber nicht mehr NPOV, das wäre ein fauler Kompromiss.
>
> NPOV ist etwas, worüber gewissermaßen abgestimmt wird. Und
> beispielsweise bei [[Ernst Haeckel]] sieht man dann ein solches
> Ergebnis. Entscheidend ist hingegen, ob das, was tatsächlich dasteht,
> argumentativ richtig ist und den Tatsachen entspricht.

Abgestimmt? Nicht wirklich. Im Konfliktfall zählen schon auch die
Argumente, die beide Seiten haben. Mit Haeckel habe ich mich noch nicht
näher befasst, da enthalte ich mich lieber erstmal.

> Du verstehst nicht, was ich meine. Sehr viele Artikel zu wichtigen
> Themen sind in einem schlechten Zustand ([[Medizin]], [[Biologie]]) oder
> fehlen völlig, wie beispielsweise [[Evolutionsbiologie]]. Ich denke
> eben, das kommt aus diesem allgemeinen Mangel. Und der ist ein großes
> Ärgernis.

Ach so. Gut, das ist teilweise so, das liegt mit daran, dass die Arbeit an
solchen Artikeln naturgemäß deutlich mehr Arbeit erfordert, bevor die
Ergebnisse zu sehen sind, und deutlich gefährdeter sind. Erfolgserlebnisse
sind bei Nebenartikeln leichter zu bekommen, und wir sind alle Freiwillige.

Die Hauptartikel benötigen wahrscheinlich jeweils ein Projekt/Portal/ ein
paar engagierte Mitarbeiter, die sich gemeinsam kümmern.

> Die Qualitätssicherung denkt wie ein Kind. "Bunte Bilder, große
> vollständige Artikel, viele Exzellente." Viel weitgreifender wäre eine
> sinnvolle und vor allem eine verbindliche Struktur der Lemmata unter
> einander. Je größer WP wird, desto wichtiger sind solche verbindlichen
> Strukturen, die Schubladen, in die das Wissen fallen soll, um ein
> einheitliches Bild zu ermöglichen.

Die QS wird ja auch von kaum jemand unterstützt. Klar, Strukturen sind
wichtig. In vielen Gebieten gibt es die, zum Beispiel im Sport, bei der
Geografie, in der Geschichte zumindest in Ansätzen. Solche Strukturen
durchzusetzen ist sehr harte Arbeit, aber sie lohnt sich. Ich bleibe
Optimist, dass sich diesen Strukturen in den wichtigeren Gebieten auch dort
jemand annehmen wird, wo sie bisher fehlen.

>>Nun, dann muss man sich Mitstreiter suchen, die den Artikel gemeinsam
>>verteidigen. Notfalls Artikel sperren lassen, wenn immer wieder
>> Umbauten
>>den neutralen Standpunkt zu einem pseudoneutralen unwissenschaftlichen
>>Larifari verschieben. (Gerhard)
>
> Netter Tipp. Wenn er nur klappen würde, wären die Artikel längst schon
> sauber geschrieben.

Das ist weder leicht, noch geht es schnell, noch überall gleichzeitig.
Wegen des Wiki-Prinzips ist es schwer durchsetzbar. Aber wenn man die von
Dir geforderten Strukturen erstmal geschaffen hat, werden sie meist auch
benutzt. Und Strukturen sind deutlich haltbarer als Artikel, wenn sie erst
existieren.

> Für jedes Lemma gibt es viele alternative Darstellungsformen und die
> derzeitigen Gewohnheiten von WP erlauben es, daß sie sich in Artikeln
> ständig abwechseln. Das führt vor allem in den Hauptartikeln zu häufigen
> grundlegenden Umbauten und auch zu Frustration und die macht eben keinen
> Spaß.

Klar, deshalb sollte die Struktur zuerst kommen, dann wird weniger
revidiert, oder zumindest an weniger empfindlichen Stellen.

> Spaß aber ist m.E. das Wichtigste, was ein Autor hier an der Arbeit
> haben sollte. Man schreibt ja nicht aus Pflichgefühl, sondern weil es
> interessant ist, von anderen zu lernen oder ihnen was zu erklären, die
> eigenen Gedanken zu sortieren und sich in etwas einzuarbeiten. :-)

Völlig richtig ;-)

> Ich meine nicht, daß die Inhalte fixiert werden sollten, aber vielleicht
> die Struktur. 
[um einiges richtige gekürzt]

Auch wieder völlig richtig. Nicht leicht durchsetzbar, aber wenn man das
erst geschafft hat deutlich robuster gegen willkürliche Veränderungen.
Hältst Du es für aussichtslos, das zu erreichen? Ich nicht, nicht, wenn
sich nicht zu viele Engagierte frustriert abwenden.

> (4) Jedes Portal sollte routinemäßig ein beigeordnetes Lemma
> "Missverständnisse" erhalten, in den ein die Darstellung von häufigen
> Mißverständnissen ausgelagert wird, um die Hauptartikel von Edits zu
> entlasten. Beispielsweise:
> - [[Portal Astronomie]] - [[Missverständnisse zur Astronomie]]
> - [[Portal Evolution]] - [[Missverständnisse zur Evolution]]

Die Idee finde ich gut, vielleicht sollte man sie etwas propagieren, damit
sie dann durchgeführt wird. Eine Art FAQ-L dürfte für viele Portale
ebenfalls nützlich sein.

> Ich schlage also genau das Gegenteil der Qualitätssicherung vor -
> nämlich eine echte Struktur, ein Gerüst.

Wenn man bedenkt, wie schlecht der Ruf der QS bei manchen ist, müsstest Du
damit eigentlich offene Türen einrennen ;-)

> Bitte nicht mißverstehen: Ich freue mich natürlich auch über
> lesenswertes und Exzellentes, aber das ist nur bei Lemmata mit
> bestimmten Merkmalen möglich. Und der Druck auf Exzellente führt nicht
> zu jener Verbesserung der WP insgesamt, wie sie eigentlich möglich wäre.

Das Streben nach "exzellenten" Artikeln habe ich nie so recht verstanden.
Aber jeder hat seine Privathobbies innerhalb der WP, und so lange die
Richtung zu mehr Qualität geht, ist mir jede Inititive recht.

> Es muß zusätzlich ein Druck auf die richtige Verwendung von Schubladen
> aufgebaut werden.

Leider ist bei der Einführung der Kategorien Ulis Vorschlag nicht
durchgeführt worden (vielleicht war er auch undurchführbar), erst eine
Struktur zu schaffen und dann die dazu passenden Kategorien. Im Nachhinein
ist das zwar schwieriger, aber völlig unmöglich ist es nicht. Kategorien
können ein gutes Mittel sein, einen Teil der gewünschten Struktur als
Gerüst anzubieten, in das sich Artikel einsortieren lassen. Und dabei
flexibel genug, dass niemand sich in einem Korsett glauben muss.

>>Was Du hier mit Druck auf Qualität meinst, ist mir nicht ganz klar. Den
>>Druck durch jene, die eine andere Weltsicht durchsetzen wollen?
>
> Damit meine ich die Bestrebungen der "Qualitätssicherung", möglichst
> kompakte Artikel zu erzeugen, in denen viel an Informationen komprimiert
> steht. Eine Einzelperson kann so einen Artikel nur mit Mühe aufbauen,
> zum anderen kommen gerade in Hauptartikeln immer wieder neue Autoren
> hinzu, die ihn umschreiben wollen.

Ach so. Ist das so? Das wäre dann allerdings das Gegenteil dessen, was ich
unter Qualitätssicherung verstehe. Eine der Stärken von WP ist doch gerade,
dass wir prinzipiell fast beliebig viel Platz haben. Wenn etwas
enzyklopädisch relevant ist, dann können ihm auch viele Artikel gewidmet
werden, selbst wenn es eher nebensächlich ist, siehe Nauru oder Färöer.

[Beispiel Psychoanalyse]

Deine Ausführungen klingen logisch. Es müsste sich halt jemand (am besten
mehrere) finden, der diese Änderung durchführt und sich dem Sturm der
Entrüstung der Andersdenkenden stellt.

> Wer sich damit beschäftigen wollte, würde auf eine Wand verschiedenster
> Widerständen treffen, die unzumutbar sind. Ich jedenfalls habe die
> Hoffnung verloren, daß sowas bei Euch möglich ist.

Warum? Es ist nicht einfach, aber in anderen Wissensgebieten ist ähnliches
gelungen, warum nicht hier auch?

> Und dabei kommt das
> nicht aus mangelnder Disziplin, denn ich bin wie andere frustrierte
> Autorinnen eigentlich sehr diszipliniert.

Vielleicht ist das in dem Zusammenhang eher ungünstig ;-) Ich bin eher
undiszipliniert, dafür ist meine Frustationstoleranz sehr hoch. Die braucht
man in WP (und gelegentlich mal ein paar Monate WP-Pause), da häufig aus
den besten Motiven die Arbeit zunichte gemacht wird, die man in einen
Artikel investiert hat.

> Es ist nur unzumutbar, meine
> Arbeitsleistung in Anspruch zu nehmen und mir im Gegenzug nichts weiter
> bieten zu können als unverbindliche Regeln und die Aussicht, daß alles,
> was an Sinnvollen und Schönem eingebracht wird, auch wieder zerstört
> werden kann. Und das von Leuten, die weniger wissen als ich.

Manchmal mache ich wochenlang nichts anders an Artikeln, als
Rechtschreibfehler zu verbessern, Links zu fixen, Grammatik zu überarbeiten
und ähnliche "primitive" Wartungsarbeiten. Damit kommt man auf gigantische
Zahlen bearbeiteter Artikel (bei mir irgendwo um die 2000 im Artikelraum,
können auch 3000 sein), was dem Ego schmeichelt, solche Arbeit wird
seltenst revidiert und es baut Frust ab.

> Wie soll es denn in 10 Jahren aussehen, wenn der unwissenschaftliche
> Zeitgeist (nennt es, wie Ihr wollt) immer mehr von Quacksalbern anspühlt
> hat, die hier mitmischen? Wollt Ihr auf die alle aufpassen? :-)

Nicht auf die Quacksalber, sondern auf die Artikel, ja. Deshalb brauchen
wir aber auch viele Leute, die mitmachen und sich auskennen, wie Dich. Und
damit das Aufpassen nicht der Strafe des Sisyphos ähnelt, benötigen wir
robuste Strukturen, die eher dazu einladen, ausgebaut zu werden, als dass
jemand sie einfach umwerfen kann.

> Wiki ist nicht nur ausbessern. Vor allem die Strukturen sollten
> irgendwie fixiert werden können. Es sollte ein inhaltiches Gerüst geben,
> das nach plausiblen Kriterien aufgestellt ist und an das sich alle
> halten sollen.

Nicht eines, viele. Prinzipiell könnte jedes Wissensgebiet ein anderes
gerüst nutzen.

> Momentan wird dieses inhaltliche Gerüst durch die Arbeit der Admins
> gerade so erfüllt.

Nein, Admins sind dafür nicht per se zuständig. Das machen alle engagierten
Nutzer, die sich auskennen. Die Schnittmenge mit Admins ist natürlich sehr
groß, denn wer engagiert mitarbeitet, muss sich schon sozial eher
inkompetent verhalten, um an einem Vorschlag zum Admin auszuweichen.

> Man braucht vielleicht zunehmend Lösungen, die unabhängig von der
> Administration funktionieren. Nicht zuletzt auch, um den ständig
> steigenden Arbeitsaufwand zu verringern und damit die Zahl der
> notwenigen Admins, die ja schon so hoch ist, daß einzelne von denen
> keinen Einfluß mehr nehmen können, ohne sich einer Cosa Nostra
> anzuschließen. *ggg*

Eines der Probleme besteht darin, dass Admins im Prinzip für zwei Aufgaben
benötigt werden: Erstens sind wir die Müllmänner der Wikipedia, die durch
Löschen von Artikelleichen den Lemmaraum sauber halten, zweitens sind wir
die Sozialarbeiter, die den Umgang zwischen den Wikipedianern im
Konfliktfall moderieren sollen. Ersteres klappt ganz gut, wenn es einem
auch manchmal Vorwürfe wie "Willkür" und "Machtmissbrauch" einträgt, wenn
man jemandem seinen Knuddelartikel gelöscht hat. Letzteres ist deutlich
schwieriger, trägt einem fast nur negative Resonanz ein und ist daher sehr
frustrierend.

Beides gemeinsam kostet einen viel von der Freuzeit, die man für Wikipedia
zur Verfügung hat, und in der man vielleicht lieber Artikel schreiben oder
lesen würde. Zusammengenommen ist die Frustrationsquote unter Admins noch
höher als beim Rest der Wikipedianer, was gelegentlich mit der
Sozialarbeiterrolle kollidiert, weil man nicht immer so gelassen bleibt,
wie man vielleicht sollte.

Für das inhaltliche Gerüst werden Leute benötigt, die Fachwissen
mitbringen, die Energie, die es erfordert, dieses auch durchzusetzen sowie
die Fähigkeit, es einfach genug zu formulieren, dass Artikel zumindest in
der Einleitung auch den Oma-Test bestehen. Nichts davon erfordert
Adminrechte, ganz im Gegenteil wäre es bei manchen Leuten vielleicht
sinnvoll, sie von der weniger produktiven Adminarbeit zu entlasten, damit
sie ihre Qualitäten besser für die WP nutzen können ;-)

So, jetzt ist diese Mail doppelt so lang, wie sie werden sollte, und
wahrscheinlich viermal so lang, wie sie sein sollte. Also mache ich lieber
mal Schluss hier.

Gruß, Gerhard