[Wikide-l] Honeckerisierung der deutschen Wikipedia
Skriptor
skriptor at jhenning.de
Mo Mär 7 08:35:16 UTC 2005
> Primär befasst er sich mit der sozialen Organisation von
> Open-Source-Projekten. Um es mal verkürzt zu sagen: Clan- bzw.
> Stammesstruktur anstelle von Basisdemokratie.
Ist es nicht wahrscheinlich, daß Basisdemokratie (im Sinne von "jeder
darf zu jeder Entscheidung mitbestimmen") ab einer gewissen
Größenordnung nicht mehr funktionieren kann? (Ob sie darunter
funktioniert, können wir hier dahingestellt sein lassen.)
Mit der Zahl an einer Organisation beteiligter Menschen steigt sowohl
die Anzahl der zu entscheidenden Fragen als auch die durchschnittliche
Anzahl der Menschen, die sich zu jeder Entscheidung äußern möchten bzw.
müssen.
Damit steigt sowohl die Anzahl als auch die durchschnittliche Länge von
Diskussionen. Irgendwann wird für jeden Beteiligten eine individuell
unterschiedliche Grenze erreicht, über die hinaus er nicht mehr Zeit in
Diskussionen und Entscheidungsfindung investieren will. (Denn dies ist
ja nur der administrative Überbau, nicht der eigentliche Zweck.) Folge:
Man nimmt an der Entscheidungsfindung gar nicht mehr teil oder trifft
halb- oder uninformierte Entscheidungen, weil man zwar noch seine
Stimme abgibt, aber die Diskussion nicht mehr verfolgt.
(Eine weitere Folge. Diejenigen, die sich ganz auf den administrativen
Überbau konzentrieren und sich nicht um den eigentlichen Zweck der
Organisation kümmern, gewinnen überdurchschnittlichen Einfluß.)
Irgendwann erreicht eine wachsende Organisation also eine Größe, ab der
Basisdemokratie im Sinne von Entscheidungen, die von allen Benutzern
gemeinsam und auf der Basis individueller Informiertheit getroffen
werden, nicht mehr funktioniert.
Es erscheint mir eine logische Entwicklung, daß sich dann - formelle
oder informelle - Gruppen bilden, die die Aufgabe der Informierung und
Entscheidungsfindung an als vertrauenswürdige angesehene Mitglieder
delegieren. Beispiel: Ich kann mich entscheiden, in Fragen des
Urheberrechts dem Benutzer X zu folgen, dessen Ansichten ich in der
Vergangenheit als sinnvoll und gut begründet (sprich: mit meinen
Vorstellungen übereinstimmend) kennengelernt habe. Wenn es dagegen um
Layout geht, kann ich mich Benutzer Y anschließen. Etc.
Auf diese Art würden zunächst mal für jede Einzelfrage neue,
voneinander unabhängige Gruppen entstehen. Es liegt aber in der Natur
der Sache, daß Menschen mit häufig übereinstimmenden Ansichten oft in
der gleichen Gruppe sind und sich mit der Zeit zu semipermanenten oder
sogar formellen Gruppen für die meisten oder alle Sachfragen
zusammenfinden, die man dann als Clan bezeichnen könnte.
Eine Clan-artige Organisation anarchistischer oder semianarchistischer
Projekte wäre demnach bei Überschreiten einer gewissen Größenordnung
ein autonomes Phänomen der Selbstorganisation, das relativ unabhängig
von bewußten Entscheidungen der Beteiligten ist.
Die nächsten Fragen wären:
- Wo sind wir in dieser Entwicklung?
- Empfinden wir diese Organisationsform als negativ?
- Wenn ja, kann man eine bessere Organisationsform erreichen?
Grüße
Skriptor