[Wikide-l] Testballon

Agon S. Buchholz asb at kefk.net
Mo Jun 27 18:30:56 UTC 2005


Ulrich Fuchs wrote:

> [...] muss sich Wikipedia aufgrund ihrer
> Beliebtheit schon fragen lassen, welche Fehlerrate in den aktuellen
> Versionen der Artikel noch im Sinne des Wiki-Prinzips sie sich
> leisten möchte. Ab einem gewissen Anteil inhaltlicher 
> Fehlinformationen schadet Wikipedia nämlich bildungspolitisch mehr,
> als sie nützt.

Mein Testballon enthielt ja keine wirklichen Falschinformationen (im 
Gegensatz zu verschiedenen anderen Flugobjekten, die nicht von mir sind, 
aber von denen Existenz ich mal gehört habe), daher lässt das Beispiel 
des genannten Artikel auch solche weit reichenden Schlussfolgerungen 
nicht zu. Welchen Anteil echte Fehlinformationen bei uns ausmachen, weiß 
vielleicht die R&D-Abteilung von Blocklaus, sonst aber m.W. niemand; da 
auch die bisherigen (externen, unabhängigen) Wikipedia-Tests keine 
gravierenden Fehlinformationen indizierten, sehe ich kein konkretes Problem.

Abstrahiert man die Frage etwas stärker, stellt sich ziemlich rasch das 
alte erkenntnistheoretische Problem positiven Wissens. Beispiel: Wird 
ein Artikel dadurch "falsch", wenn er die 1960 korrekte Sicht darstellt, 
aber die nachfolgende wissenschaftliche Debatte nicht reflektiert? Wird 
der Blocklaus von Tag zu Tag "falscher", weil aktuelle Entwicklungen 
nicht aufgenommen werden (können), obwohl die angegebenen Grundfakten 
aber stimmen? Oder sollte man nicht grundsätzlich eher unterscheiden 
zwischen differenzierteren Kategorien wie "falsch", "veraltet", 
"unvollständig" usw.? Hätte es dann überhaupt noch Sinn, pauschal über 
einen möglicherweise zu hohen Anteil von "Fehlinformationen" zu diskutieren?

Müssen in einen Artikel die alleraktuellsten Erkenntisse (die bereits in 
einer Woche durch eine gegenläufige Studie in Frage gestellt werden 
könnten) eingearbeitet sein, damit er (in diesem Augeblick) "wahrer" 
wird, oder dürfen es ein bisschen abgehangene (und damit etwas weniger 
"wahre"?) Erkenntnisse sein, die zwar nicht den (ganz) aktuellen 
Forschungsstand widerspiegeln, über die aber wenigsten Konsens herrscht? 
Von welchen Konsensen geht man dann aus, von wissenschaftlichem, 
polulärwissenschaftlichem oder allgemeinem? Was ist mit marginalisierten 
Meinungen, die möglicherweise "wahrer" sind, von der herrschenden 
(Wissenschafts- oder Öffentlichkeits-) Meinung aber nicht anerkannt sind 
(bspw. die unterschiedlichen Theorien über die Entwicklung der 
Sprachen). Wer legt denn überhaupt fest, was wichtig oder angeblich 
"wahr" bzw. unwichtig oder angeblich "falsch" ist?

Kurzum: Jenseits von Geburts-/Sterbedatum und -ort und ein paar 
Lebensetappen gibt es nur einen begrenzten Vorrat "objektiver" Fakten 
über eine Person; kommunikations- und publizistikwissenschaftliche 
Forschungsergebnisse zu Medienwirkungen werden mit größter 
Regelmäßigkeit von relativierenden oder gegenläufigen Studien begleitet; 
  empirische Datenerhebungen sind kein objektives Wissen, sondern 
Erkenntnisse, die von der Art der Fragestellung und der Selektion der 
angeblich repräsentativen Stichprobe vorgeprägt werden. Diese beispiele 
ließen sich beliebig fortführen und sollten hinreichend bekannt sein.

Macht es einen Artikel wirklich zu einer "Fehlinformation", wenn er 
nicht "vollständig" ist und nicht den aktuell(st)en Forschungsstand 
wiedergibt? Würde man so argumentieren, müsste ich alles, was ich 
während meines Pblizistik- und Kommunikationswissenschaftsstudiums 
gelernt habe als "Fehlinformation" disqualifizieren, weil große Bereiche 
der wissenschaftlichen Forschung vollständig ausgeklammert wurden: Hier 
spielen Ideologien ebenso eine Rolle wie "Themenkarrieren", die es wohl 
in jeder wissenschaftlichen Disziplin geben dürfte. Und spätestens die 
vereiteln in der enzyklopädischen Realität dann wohl jeden Anspruch auf 
"Wahrheit" und "Objektivität".

MfG -asb