[Wikide-l] Honeckerisierung der deutschen Wikipedia

Thomas Unglaube thomas7 at munich.com
Mo Mär 7 11:46:32 UTC 2005


Skriptor <skriptor at jhenning.de> schrieb:

> 
> > Primär befasst er sich mit der sozialen Organisation 
> > von Open-Source-Projekten. Um es mal verkürzt zu sagen: 
> > Clan- bzw. Stammesstruktur anstelle von Basisdemokratie.
> 
> Ist es nicht wahrscheinlich, daß Basisdemokratie (im 
> Sinne von "jeder darf zu jeder Entscheidung 
> mitbestimmen") ab einer gewissen Größenordnung nicht mehr 
> funktionieren kann? (Ob sie darunter funktioniert, können 
> wir hier dahingestellt sein lassen.)
> 
> Mit der Zahl an einer Organisation beteiligter Menschen 
> steigt sowohl die Anzahl der zu entscheidenden Fragen als 
> auch die durchschnittliche Anzahl der Menschen, die sich 
> zu jeder Entscheidung äußern möchten bzw. müssen.
> 
> Damit steigt sowohl die Anzahl als auch die 
> durchschnittliche Länge von Diskussionen. Irgendwann wird 
> für jeden Beteiligten eine individuell unterschiedliche 
> Grenze erreicht, über die hinaus er nicht mehr Zeit in 
> Diskussionen und Entscheidungsfindung investieren will. 
> (Denn dies ist ja nur der administrative Überbau, nicht 
> der eigentliche Zweck.) Folge: Man nimmt an der 
> Entscheidungsfindung gar nicht mehr teil oder trifft 
> halb- oder uninformierte Entscheidungen, weil man zwar 
> noch seine Stimme abgibt, aber die Diskussion nicht mehr 
> verfolgt.
> 
> (Eine weitere Folge. Diejenigen, die sich ganz auf den 
> administrativen Überbau konzentrieren und sich nicht um 
> den eigentlichen Zweck der Organisation kümmern, gewinnen 
> überdurchschnittlichen Einfluß.)
> 
> Irgendwann erreicht eine wachsende Organisation also eine 
> Größe, ab der Basisdemokratie im Sinne von 
> Entscheidungen, die von allen Benutzern gemeinsam und auf 
> der Basis individueller Informiertheit getroffen werden, 
> nicht mehr funktioniert.
> 
> Es erscheint mir eine logische Entwicklung, daß sich dann 
> - formelle oder informelle - Gruppen bilden, die die 
> Aufgabe der Informierung und Entscheidungsfindung an als 
> vertrauenswürdige angesehene Mitglieder delegieren. 
> Beispiel: Ich kann mich entscheiden, in Fragen des 
> Urheberrechts dem Benutzer X zu folgen, dessen Ansichten 
> ich in der Vergangenheit als sinnvoll und gut begründet 
> (sprich: mit meinen Vorstellungen übereinstimmend) 
> kennengelernt habe. Wenn es dagegen um Layout geht, kann 
> ich mich Benutzer Y anschließen. Etc.
> 
> Auf diese Art würden zunächst mal für jede Einzelfrage 
> neue, voneinander unabhängige Gruppen entstehen. Es liegt 
> aber in der Natur der Sache, daß Menschen mit häufig 
> übereinstimmenden Ansichten oft in der gleichen Gruppe 
> sind und sich mit der Zeit zu semipermanenten oder sogar 
> formellen Gruppen für die meisten oder alle Sachfragen 
> zusammenfinden, die man dann als Clan bezeichnen könnte.
> 
> Eine Clan-artige Organisation anarchistischer oder 
> semianarchistischer Projekte wäre demnach bei 
> Überschreiten einer gewissen Größenordnung ein autonomes 
> Phänomen der Selbstorganisation, das relativ unabhängig 
> von bewußten Entscheidungen der Beteiligten ist.
> 
> Die nächsten Fragen wären:
> - Wo sind wir in dieser Entwicklung?
> - Empfinden wir diese Organisationsform als negativ?
> - Wenn ja, kann man eine bessere Organisationsform erreichen?

Z.B. durch Bewußtmachung solcher Probleme. Einige Probleme
bekommt man in der deutschen WP nur durch Riskierung seiner 
Benutzerkennung ins Bewußtsein. 

Eine Art mit dem neuen Problembewußtsein umzugehen ist, Regeln zu
formulieren, mit solchen Problemen umzugehen. Das Spiel [[Nomic]]
basiert auf dieser Idee. Viele - nicht nur gegenwärtige -
Menschen erleben Regeln nur als Methode der Eineingung und 
Herrschaft. M.E. fehlt bei diesen das Bewußtsein, dass Regeln
zuallererst jene beschränken, denen mehr Ressourcen zur Verfügung
stehen als ihnen selbst. Ich schreibe mit Absicht nicht von 
Machtmitteln. Regeln schützen also i.d.R. Schwächere gegen Stärkere. 

Nun fragt sich natürlich jeder, warum sollten Stärkere sich dann
für Regeln einsetzen. Die Antwort findet man in dem grauen Kasten
auf der Diskussionsseite des Benutzers Fantasy oben rechts. Dieser
graue Kasten ist Ergebnis einiger schlechter Erfahrungen, beginnend 
(nicht erst) bei Eingeborenen aus den Wuppertal-Düsseldorfer (oder war es 
Essener?) Niederungen.
Thomas7

Lesetipps zum Thema: 
[[Walter Janka]]: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Essay.
                  Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1989,
                  ISBN 3-499-12731-8
Gert Gruner/Manfred Wilke (Hrsg.): Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit
                  Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in Berlin 1945/46
                  R.Piper Verlag, München, 1981,
                  ISBN 3-492-10226-2
Otfried Höffe: Lesebuch zur Ethik.
                  Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart.
                  becksche reihe, Verlag C.H.Beck, München, 1999
                  Von Babylon und Altagypten über Kant und Camus bis Luhmann und Habermas
Hannah Arendt: Macht und Gewalt
                  Piper Verlag München Zürich, Erstausgabe 1970, englischer Originaltitel:
                  'On Violence', ISBN 3-492-20001-X
Hannah Arednt: Benjamin, Brecht. Zwei Essays
                  Serie Piper, München, 1971, ISBN 3-492-00312-5


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