[Wikide-l] Frage: Gibt es ein "Krise der Wikipedia" und sind die Probleme neu?

Ulrich Fuchs mail at ulrich-fuchs.de
Fr Dez 9 11:42:35 UTC 2005


Am Freitag, 9. Dezember 2005 05:39 schrieb Agon S. Buchholz:
>
> Wikipedia funktionert bisher "Bottom-up", ist also ein prototypisches
> Graswurzelprojekt. Ansagen "von oben" ("oben" = Jimbo Wales, der
> Hinterzimmer-Club etc.) würden diesen Vektor umkehren, mit allen Folgen,
[...]
> Deine Idee löst also nicht ein Problem der Wikipedia, sondern definiert
> das Projekt um,

Nein, da verstehst Du mich falsch. Ich würde keineswegs empfehlen, eine 
Redaktion einzurichten, die Top-Down Inhalte strukturiert, Textlängen vorgibt  
etc. Das muss sich Bottom-Up regeln. Was der Wikipedia jedoch fehlt, ist der 
stabile Kontext, in dem die bottom-up-Methode ihre Wirkung entfalten kann. 
Also kommt am Ende irgendwas raus (siehe bspw. die Heise-Postings zur 
Wikipedia: Der überwiegende Teil dort - und der schreibt auch in der WP - 
sieht die WP als Hort der freien Meinungsäußerung. Dafür mag sie ja ganz gut 
sein, aber Enzyklopädie und Hort der freien *Meinungs*äußerung beißt sich 
nunmal. Ich habe kein Problem damit, wenn Wikipedia bottom-up zum blanken 
Wiki und zum Hort der freien Meinungsäußerung wird, nur soll man sie dann 
halt nicht mehr Enzyklopädie nennen.

> Beispiel (aus der Wikipedia-Realität, hier aus verschiedenen Gründen
> etwas abstrahiert): Seitdem Wikipedia wichtig geworden ist, hat nicht
> zuletzt die Marketing-Mafia Wikipedia entdeckt; 

Dass die das machen würden, und dass man aus genau dem Grund extrem vorsichtig 
sein sollte, *überhaupt* irgendwelche Produkte/Unternehmen außer den ganz 
großen aufzunehmen, predige ich schon seit siebzigeinundziebzig. Aber auf 
mich hört ja keiner *schnüff*

> Ich will damit ausdrücken, dass Du mit Kindereien wie
> Registrierungspflicht mit gültiger E-Mail-Adresse nicht gegen massive
> Interessen ankommst, insbesondere dann nicht, wenn man sie einen
> kommerziellen Backgrund haben; 

Nein, aber mit einer Atmosphäre, in der die entsprechenden Interessen von 
Teilnehmern auffallen, und in denen man diese Teilnehmer eben auch aussperren 
kann.

> Wikiweise hat ein solches Problem nicht, weil es -- bitte versteh' das
> > nicht falsch -- unbedeutend ist und von keinem unserer gemeinsamen 
> Gegner ernst genommen wird. Sollte Wikiweise irgendwann einmal in den
> Sichtkreis dieser Interessengruppen gelangen, wirst Du das sicherlich
> als erster bemerken und dann feststellen, dass Deine Schutzmechanismen
> auch nicht ausreichen, nur werden sie vielleicht ein paar Wochen länger
> halten.

Das bliebe abzuwarten. Gegen kriminelle Energie kommt man natürlich nicht an, 
aber wenn man sagt, man nimmt eben bspw. nur die großen Konzerne auf und 
irgendwelche echten Meilenstein-Produkte (und nicht jedes Modell jedes 
Autoherstellers), dann ist man in einem Bereich, wo die Interssierten sich 
hüten werden, mit krimineller Energie vorzugehen, weil - würde es publik - 
das ganz massiv schadet.

> geballten Macht der "Massen"; im Prinzip funktioniert das
> "100-Augen-Prinzip" gut genug, nur müssen die hundert Augen in demselben
> Maßstab skalieren, wie die Gegenseite "aufrüstet". Konkret bedeutet das,

Das Problem der Wikipedia ist, dass von den 100 Augen mindestens 99 blind 
sind.

> Wikipedia muß mehr aktive, engagierte und kompetente Mitarbeiter finden,
> damit überhaupt wieder hundert Augen zum Gucken da sind -- momentan
> scheint das Verhältnis längst zu Ungunsten der Wikipedia gekippt sein,
> und hundert "Partikularisten" werden mit einem halben und dann auch noch
> übermüdeten Wikipedianer-Auge beobachtet. 

Ja - da sind wir uns offenbar einig.

> Das Problem ist m.E., dass das 
> "100-Augen-Prinzip" momentan ausgehebelt ist und nicht in dem Maßstab
> engagierte Wikipedianer "nachgewachsen" sind, wie die Bedeutung der
> WIkipedia zugenommen hat.

Ja - und das liegt eben m.E. daran, dass man die neuen nicht richtig 
"erzogen" (gecoacht, angeleitet, such dir was aus), sondern sie einfach 
*alles* machen ließ (bunte Navigationsleisten aufbauen, Ortsstubs einstellen 
u.s.w), weil man ja ein bottom-up-Wiki ist. So hat man sich Wikipedianer 
"herangezüchtet", die in erster Linie auf blanke Masse, auf Sammeltrieb und 
auf Klickibuntiweb eingestellt sind. Und nicht auf *Texte lesen, verstehen 
und schreiben*. Die Klickibuntiwikipedianer ziehen in großer Menge neue 
Klickibuntiwikipedianer heran. Die Textschreiber kommen nicht nach, im von 
den Klickibuntiwikipedianern produzierten Rauschen echte 
Verschlimmbesserungen auszufiltern und zu korrigieren, und lassen es 
irgendwann sein. Dass das für eine Enzyklopädie nicht gut sein kann, wollte 
ja keiner glauben, nu muss man es ausbaden. 

Uli