[Wikide-l] 3. Re: Qualität (Klaus Graf)

Ulrich Fuchs mail at ulrich-fuchs.de
Do Dez 9 18:47:43 UTC 2004


Am Mittwoch, 8. Dezember 2004 23:42 schrieb peterchen at arcor.de:
> Heute schreibe ich über alles mögliche - aber nie wieder über meine
> Fachgebiete! 2 Freunde von mir sind auch dabei - gleiches Ergebnis. Und

Am Mittwoch, 8. Dezember 2004 18:21 schrieb Klaus Graf:
> Es fehlen [...]
> hinreichend Fachleute, die a) bereit sind, groessere gute
> Ueberblicksartikel zu schreiben, b) diese wie Zerberus vor den
> Verschlimmbesserungen der Hobby-Autoren zu bewachen sowie  

Andere haben hier in der Vergangenheit ziemlich genau das gleiche geschrieben. 
Das Problem ist seit langem bekannt. Fachleute verlieren die Lust, über ihre 
Fachgebiete zu schreiben, weil sie die Artikel quasi lebenslang schützen 
müssten. Das betrifft mittlerweile so ziemlich alle Fachbereiche.

Es ist ein allgemeines Problem der Wikipedia. Und es sollte wirklich endlich 
mal zu denken geben. Die Theorie über Wikis sagt, dass Artikel nicht 
schlechter werden, sondern besser - und zwar ganz von allein, ohne dass es 
ein Eigentum an Artikeln gibt oder eine zentrale Redaktion. Die Teilnehmer 
sagen durch die Bank, dass das Gegenteil der Fall ist - dass gute Artikel 
regelrecht beschützt werden müssen, um nicht in die Mittelmäßigkeit 
heruntergezogen zu werden. Das ist für gute Autoren ein ähnlicher Abtörner 
wie mittigerseits angebräunte Feinrippunterhosen für die Damenwelt. 
(Anhängerinnen des [[Fäkalfeinrippunterhosenfetischismus]] mal ausgenommen).

Frage: Warum ist das so? Warum werden die guten Artikel schlechter, wenn man 
man nicht dauernd wie ein Schießhund auf sie aufpasst?

These 1) Der Beschützerinstinkt der Autoren sorgt aus noch zu definierenden 
Gründen dafür, dass die Artikel schlechter werden statt besser, weil er eine 
evolutionäre Entwicklung zum besseren hin verhindert.
These 2) Wikis sind evolutionäre Systeme. Lässt man das Wiki laufen, passen 
sich Artikel der Umwelt an, die aus der Erwartungshaltung der Teilnehmer an 
die Artikel, und dem Input, den sie liefern können, besteht. 

Nachdem mir keine Gründe einfallen, warum Artikel besser werden sollten, wenn 
man zulässt, dass Gutes entfernt und Unsinn hinzugefügt wird, bin ich von der 
Richtigkeit der These 2 überzeugt. Logische Folge dieser These: sind die 
Artikel auf einem schlechten Niveau, so liegt es an den Teilnehmern, und an 
nichts anderem. Die Steuerung der Qualität der Artikel kann in einem Wiki, 
das ohne Artikelbewacher auskommen soll, nur über die Steuerung der Qualität 
der Teilnehmer erfolgen. 

Die Frage darf in einem Wiki also nicht sein: Wie bekomme ich bei bestehender 
Teilnehmerstruktur bessere Artikel, sondern: Wie verändere ich die 
Teilnehmerstruktur so, dass die Artikel besser werden? 

Der Ansatz in die Natur übertragen: Wie kriege ich es hin, das Elefanten 
fliegen oder tauchen lernen? Die Antwort ist nicht, leichteren und 
schwimmfähigeren Elefanten ein grünes Bapperl zu verpassen und anderen ein 
rotes (das wäre der Bewertungs-Ansatz), und dann zu hoffen, dass irgendwer 
daher kommt und den rotbepapperlten Fett absaugt oder sie so genmanipuliert, 
dass ihnen Flossen wachsen. Die bessere Antwort ist, den Wasserspiegel über 
tausende von Generationen langsam steigen zu lassen - der Rest passiert von 
selber (vorausgesetzt die Rüsselträger ersaufen nicht oder sie kriegen noch 
längere Rüssel).

Letzter Absatz: Ich weiß, das Evolution nicht zielgerichtet ist. Aber die 
Evolution in der Wikipedia soll zielgerichtet sein - es sollen gute 
Enzyklopädieartikel rauskommen und nicht Shakespeares gesammelte Werke; wir 
reden also genaugenommen eher über Züchtung. Aber auch da kommts drauf an, 
dass klar ist, wo die Reise hingehen soll - wenn das Zuchtziel nicht klar 
ist, bleibt ein Wolf ein Wolf und wird weder zu einem Bernhardiner noch zu 
einem Zwergpinscher. Vor allem kommt es darauf an, was die 
Züchtergemeinschaft für wesentlich hält: wenn der Bernhardinerzüchterverein 
einen Bernhardiner haben will, aber im eher wichtig ist, dass vor allem die 
jeweils kleinsten Viecherl miteinander dürfen, weil die ja weniger Dreck und 
Arbeit machen, braucht man sich nicht wundern, wenn der am Ende einen 
Zwergpinscher gezüchtet hat und - durch Zu- und Abgänge von Mitgliedern - ein 
Zwergpinscherzüchterverein geworden ist, der sehr stolz auf sich ist.

Genug der hinkenden Vergleiche, ich geh mir jetzt ein Bierchen trinken.

Uli